10.12.21 Wieso die Schließung der Fittnessstudios auch für die psychische Gesundheit von Relevanz ist. Ein Blogbeitrag von unserer Moderator:in Nora.
#jungengesundheit #fitness #lockdown #verzweiflung #ungewissheit
„Hallo, entschuldigen Sie“, spricht Adrian mich beim Herausgehen an.
„Wissen Sie schon, ob Sie bald wieder schließen müssen?“ Er ist höflich, so wie immer. Die Verzweiflung und die Angst kann ich aber trotzdem deutlich in seiner Stimme hören.
Ich arbeite neben meinem Studium im Fitnessstudio, wo viele Jugendliche fast täglich trainieren. Immer am Nachmittag oder am Abend - nach der Schule eben.
Besonders in den letzten Tagen kamen viele von ihnen auf mich zu, um nach einer Prognose zu fragen. Bleiben die Studios geöffnet oder steht uns wieder ein noch grauerer Winter als ohnehin schon bevor?
Für die Jungen ist es besonders hart. Sie versuchen mit Humor und einem Lächeln zu überspielen, wie sehr sie unter dem Gedanken leiden, dass ihnen ihr Sport wieder genommen werden könnte.
Dass Sport nicht nur der körperlichen Gesundheit zugutekommt, sondern auch dem psychischen Wohlbefinden, wissen hier nämlich längst alle. Es sind die zwei Stunden am Tag, an dem die nervigen kleinen Geschwister mal nicht ins Zimmer platzen können, an denen man die Eltern nicht streiten hört. Zwei Stunden, in denen man mal ganz bei sich und seinem eigenen Körper ist.
Eine Auszeit, die einen für einen Augenblick den Alltag vergessen lässt und doch so sehr zum Alltag selbst gehört.
Adrian ist damit nicht der Einzige. Allein im Jahr 2020 waren laut Statista1,77 Milionen 14-19-Jährige in einem Fitnessstudio angemeldet.
Besonders in der Pubertät kommt sportlichen Aktivitäten eine besondere Bedeutung zu. In der Adoleszenz finden weitreichende hormonelle Veränderungen statt und der eigene Körper entwickelt sich. In der Schule geht es nicht mehr nur um das Lernen. Sozialen Kontakten kommt in dieser Zeit meist der wohl höhere Stellenwert zu.
Es werden Freundschaften geknüpft, „Feindschaften“ besiegelt, die ersten Beziehungen eingegangen.
Soziale Anerkennung wird zunehmend zu einem bestimmenden Thema.
Jugendliche probieren sich aus und rebellieren, wodurch es auch vermehrt zu Streit und Auseinandersetzungen mit den Eltern kommt - was wichtig ist. Auch die Abgrenzung von den Eltern ist ein notwendiger Entwicklungsschritt.
In dieser stressigen Phase dient dennoch Sport als Ventil. Viele Studien zeigen, Sport macht gute Laune, steigert das Selbstwertgefühl, verringert Angstzustände und führt zu einer positiveren Selbstwahrnehmung (Slater & Tiggemann, 2011).
Die körperlichen Vorteile, die ein aktiver Lebensstil mit sich bringt, sind ebenfalls wissenschaftlich gut belegt.
Krafttraining verbessert die motorischen Fähigkeiten und den Körperbau, verstärkt die Knochendichte und führt zu einer Reduzierung des Körperfettanteils (Barbieri & Zaccagni, 2013). Natürlich geht es bei Jugendlichen auch zunehmend um das Erreichen einer Idealvorstellung des eigenen Körpers (Oransky & Marecek, 2009) – einer Annäherung an das sogenannten „Ideal-Ich“. Bei den Jungen ist dies eng verbunden mit der gesellschaftlichen Definition von Maskulinität (Bindel & Theis, 2020). Dass die Jungen ihre Angst und Verzweiflung über die Ungewissheit des für sie psychisch, physisch und sozial so bedeutsamen Sports, nicht zeigen, soll auch ihre Maskulinität betonen.
Studien konnten zeigen, dass Jungen in der Adoleszenz zunehmend externalisierende Emotionen wie Wut oder Angst zeigen, um sich ihrer Geschlechterrolle entsprechend zu verhalten (Chaplin & Aldao, 2012). Affekte wie Angst oder Traurigkeit werden hingegen unterdrückt, um der Rolle des starken Mannes gerecht zu werden.
„Ich kann es dir nicht sagen, das hängt ganz von der weiteren Entwicklung des Infektionsgeschehen ab“, sage ich. Es fühlt sich nicht gut an, Adrian dies als Antwort zu geben. Es ist nicht einmal eine richtige Antwort und auch kein Trost. „Na gut“, sagt Adrian, der sicher bemerkt hat, dass ich auch nicht zufrieden damit bin.
„Wir müssen uns für den Moment freuen, dass wir noch trainieren können“, sage ich mit einem etwas erzwungenen hoffnungsvollen Ton und einem kleinen Grinsen. Adrian lächelt zurück. „Dann einen schönen Feierabend später.“
Die Pandemie trifft jeden auf ihre eigene Art. Jeder leidet auf seine Weise. Manche ertragen still und zerbrechen innerlich, ohne, dass jemand es merkt. Insbesondere die Jungen sagen uns vielleicht nicht, wie verletzlich sie wirklich sind. Gerade deshalb müssen wir auf die kleinen Signale achten, die sie uns senden. Wir müssen aufeinander achtgeben. Am Ende bleibt der kleine Trost, dass wir alle nicht allein sind und die Gewissheit, die Charlie Chaplin einst gab: „Nichts ist in dieser schlechten Welt von Dauer, nicht einmal die Sorgen.“
Nora Hackbarth
Literatur
Barbieri, D. & Zaccagni, L. (2013). Strenght training for children and adolescents: benefits and risks. Collegium Anthropoligicum, 37, 219-225.
Bindel, T. & Theis, C. (2020). Fitness als Trend des Jugendsports – eine Wissenskultur. Forum Kinder- und Jugendsport, 1, 6-14. https://doi.org/10.1007/s43594-020-00001-w
Chaplin, T. M. & Aldao, A. (2013). Gender differences in emotion expression in children: a meta-analytic review. Psychological Bulletin, 139(4), 735-765. https://doi.org/10.1037/a0030737
Oransky, M. & Marecek, J. (2009). “Im not going to be a girl”: Masculinity and emotions in boys’s friendships and peer groups. Journal of Adolescent Research, 24(2), 218-241. https://doi.org/10.1177/0743558408329951
Pawlik, V. (2020). Fitnessstudio-Nutzer in Deutschland nach Alter 2020. Abgerufen unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/272096/umfrage/fitnessstudio-nutzer-in-deutschland-nach-alter/
Slater, A. & Tiggemann, M. (2011). Gender differences in adolescent sport participation, teasing, self-objectification and body image concerns. Journal of Adolescence, 14, 455-463. https://doi.org/10.1016/j.adolescence.2010.06.007